Unständig Beschäftigt - Unanständig Versichert
Oft kommt nur ein Teil der Beiträge von
"Unständig Beschäftigten" bei
der Rentenversicherung an. Ursache: Ihre
Sozialversicherung
ist viel zu kompliziert.
Betroffen sind vor allem
freie Mitarbeiter aus der Film- und Fernsehwirtschaft: Tageweise
arbeitende Kameraleute, Reporter und Schauspieler zum Beispiel. Aber die
Sozialversicherer haben als "Unständige" noch viele weitere
Berufsgruppen im Blick, wie zum Beispiel Wagenwäscher beim
Autoverleih, Aushilfsnachtwachen im Krankenhaus und
"Entbeiner" im Schlachthof.
Auf der Jagd nach zusätzlichen Einnahmen wollen die
Sozialversicherer immer mehr Beschäftigte als sogenannte
"unständig Beschäftigte" einstufen. Doch
skandalöse Zustände bei Synchronsprechern im Raum Berlin
machen deutlich: Alle Beteiligten sind mit der Beitragsverwaltung der
"Unständigen" überfordert. In großem Stil
versickern die Beiträge der Betroffen auf dem Weg auf dem Weg
in den Rentencomputer.
Als
"Magnums" Stimme vor rund zwei Jahren Post von der
Rentenkasse bekam, verschlug es ihm die Sprache: Norbert Langer,
vielbeschäftigter Synchronsprecher, unter anderem für die
US-Detektivserie "Magnum", fiel "fast in Ohnmacht",
als er seinen Versicherungsverlauf betrachtete, den ihm die
Bundesversicherungsanstalt BfA zusammengestellt hatte. Schon bei
flüchtiger Prüfung musste er feststellen, dass ein großer
Teil seiner Rentenbeiträge aus über 25 Jahren
Berufstätigkeit verschwunden war.
Langer
kramte alle verfügbaren Unterlagen über seine Synchron-Jobs
zusammen und ging damit zur BfA. Deren Angestellte brachten mit
seinen Meldezetteln zwar mehrere Stunden am Kopiergerät zu, aber
sie überließen es Langer, den offiziellen
Versicherungsverlauf im Detail mit seinen Unterlagen abzugleichen.
Inzwischen
arbeitet die freiberufliche Buchhalterin Marita Ociepka den Berg an
Belegen ab und stellt die Differenz für jedes Jahr fest. Danach
hat Langer beispielsweise im Jahr 1984 für 62.400 Mark
Rentenbeitrag bezahlt. Registriert bei der BfA sind aber bisher nur
34.200 Mark. Im Jahre 1985 kamen 39.000 von den gezahlten 56.000 Mark
sind nicht in den BfA-Unterlagen an. Und in den 90er Jahren ging es
munter so weiter: 1991 wurden nur rund 47.000 von 69.000 Mark für
die Rente registriert, im Jahre 1993 waren es rund 55.800 von 95.000
Mark. Langer: "Einen Schwund von zehn Prozent hätte ich
aus Bequemlichkeit in Kauf genommen, aber das ist entschieden
zuviel."
Die
Spitze des Eisberges
Den
Versicherungsverlauf und damit die Höhe seiner Rente kann Langer
nun mühsam nachträglich korrigieren lassen. Tausende Mark
an zuviel gezahlten Beiträgen Kranken- und Rentenversicherung
sind aber verloren. Denn was er über die
Beitragsbemessungsgrenze hinaus gezahlt hat (allein 1984 mindestens
3000 Mark Beiträge), kann er sich nur bis spätestens vier
Jahre später von den Sozialkasssen zurück holen.
Wie
Langer geht es mindestens 20 weiteren Synchronsprechern, die Marita
Ociepka seit Oktober 2000 als Kunden gewonnen hat. Bei allen stellte
sie fest, dass 30 bis 50 Prozent der Beiträge im
Versicherungsverlauf fehlen.
Verantwortlich
dafür sind die komplizierten Vorschriften für die
Sozialversicherung von tageweise Beschäftigten. Davon sind
längst nicht nur Synchronsprecher betroffen. Die Synchronbranche
ist nur die Spitze eines Eisberges.
In
der Film- und Fernsehbranche kommt es häufig vor, dass
Auftraggeber und Beschäftigte tageweise Sozialversicherung
abrechnen müssen, unter anderem Cutterinnen und Kameraleute,
TV-Reporter und Schauspieler. Da sie nicht als künstlerisch und
publizistisch tätige Freiberufler angesehen werden, lässt
man sie nicht in die - eigentlich angemessenere -
Künstlersozialkasse.
Neue
Berufsgruppen im Visier
Doch
die Sozialversicherer haben den Kreis der unständig
Beschäftigten erst im Mai 2000 neu definiert. Sie haben noch
erheblich mehr Tätigkeiten im Visier, die nach ihrer Auffassung
als "unständige Beschäftigung anzusehen sind. Je nach
Tätigkeitsbild können zum Beispiel Aushilfsnachtwachen im
Krankenhaus, Wagenwäscher beim Autoverleih, Aushilfskellner,
Tagelöhner in der Landwirtschaft, Ausbeiner und Kopfschlächer
bei Schlachthöfen und Aushilfspacker bei Spediteuren in diese
Kategorie fallen.
Wolfgang
Schimmel von der Rechtsabteilung von ver.di/ IG Medien hält das
für eine Fehlentwicklung. "Bei den
Kurzzeit-Beschäftigungen funktioniert das Sozialsystem nicht.
Die Gesetze für Beschäftigungen geschrieben wurden, die
eine gewisse Zeit dauern." Die Probleme zeigen sich besonders
deutlich am Berliner Synchronsprecherskandal.
Viele
Synchronsprecher haben 30 und mehr Auftraggeber, bei denen sie von
Zeit zu Zeit arbeiten. Mal werden sie für das Sprechen weniger
Sätze eines einzelnen Films zum Studio bestellt, mal sind sie
auf Jahre hinaus für die Synchronisation bestimmter Figuren
einer Fernsehserie eingeplant. An manchen Tagen haben
Synchronsprecher Einsätze in fünf verschiedenen Studios,
jeweils für wenige Sätze Text. Das Bundesfinanzgericht hat
aus dem Berufsbild schon früh geschlossen, dass Synchronsprecher
Selbständige sind - denn alles andere wäre den Finanzämtern
zu kompliziert zu handhaben, sie müssten 30 Steuerkarten
ausgeben und abrechnen.
Doch
die Sozialversicherung bleibt bei der tageweisen Abrechnung, mit
allen Ungereimtheiten.
Mal
rechnen die Synchronstudios Sprecher als "unständig
Beschäftigte" ab, die Beiträge bis zur monatlichen
Bemessungsgrenze abführen müssen, mal als "kurzfristig
Beschäftigte", die nur bis zur Tages-Bemessungsgrenze
Renten- und Krankenversicherung zahlen.
Die
Betriebsprüfer der Sozialversicherer machen dabei mit. So konnte
die Buchhalterin der Hermes-Synchron in Babelsberg die BfA-Prüferin
davon überzeugen, dass die meisten Sprecher "kurzfristig"
beschäftigt sind. Die Landesversicherungsanstalt (LVA)
verdonnerte die cinephon Filmproduktion in Berlin hingegen dazu, ab
1998 alle ihre Synchronsprecher als "unständig
Beschäftigte" zu behandeln. Das kostet die cinephon nach
Angaben von Geschäftsführer Martin Ruddigkeit 50.000 Mark
im Jahr zusätzlich an Arbeitgeberbeiträgen. Das Geld würde
er gerne zahlen, wenn dies für alle Synchronunternehmen gälte.
So aber erleide sein Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil. Briefe an
die LVA mit der Bitte, alle gleich zu behandeln, blieben nach
Ruddigkeits Darstellung unbeantwortet.
Häufig
kommen Unternehmen dadurch völlig um die Versicherungsbeiträge
herum. Sie brauchen bloß nachmittags einen Versicherten als
"kurzfristig" einstufen, der am Vormittag schon bei einem
anderen Sender oder Studio Sozialversicherung bis zur
Tageshöchstgrenze bezahlt hat.
Rentenbeiträge
versickert
Und
das Geld der Kollegen versickert auf dem Weg zum Rentenanspruch in
den Löchern und Schwachstellen des Systems.
Manche
Arbeitgeber scheren sich nicht darum, an welche Kasse sie die
Sozialbeiträge zahlen müssen. Sie schicken die Meldung an
die örtliche AOK - und die weiß nicht, wohin damit. Bei
bundesweiten Versichererungen wie der BEK schicken Arbeitgeber den
Beitrag an die Geschäftsstelle am Arbeitsort. "Dann
wandert die Meldung von Eingangskorb zu Eingangskorb, bis sie auf dem
Weg zum Beitragskonto des Versicherten verschwindet, weil kein
Sachbearbeiter die komplizierte Angelegenheit anpacken will",
sagt Angelika Speich, Buchhalterin bei Hermes-Synchron.
In
Zeiten des Sparzwanges und der Gesundheitsreform fehlt es manchen
Kassen offensichtlich an Personal, um die vielen Einzelbeträge
einzubuchen. So bekam die Buchhalterin der cinephon, Karin Steinhauf,
von einer Kasse eine Jahresmeldung zurück, auf der ein Sprecher
mit nur 15 Einsätzen berücksichtigt war. Tatsächlich
aber hatte Steinhauf den Kollegen mit 124 Einsätzen an die
Krankenkasse gemeldet. Daniela Hoffmann, die Stimme von Julia
Roberts, musste dieselbe Erfahrung machen. 30 mal war sie zum
Synchronisieren eingesetzt und hatte Versicherungsbeiträge
abgeführt, aber nur 14 mal hatte die Kasse dies in ihrem
Computersystem eingegeben. Die Aufgabe, die Meldungen noch einmal
abzugeben, bürdet die Krankenkasse den Unternehmen auf - einen
Aufwand ohne Ertrag, den sich manche Firma wohl erspart.
Andererseits
vergessen manche Unternehmen, den Beschäftigten die
Versicherungsmeldungen zuzuschicken. So fand Marita Ociepka bei der
Berliner AOK zusätzliche Beitragsmeldungen, die ihre Klienten
nicht erhalten hatten.
Nach
Ociepkas Recherchen klaffte jahrelang auch bei der
Bundesversicherungsanstalt selbst ein großes Loch, in dem
Rentenansprüche von Versicherten untergingen: War ein
Versicherter im Versicherungscomputer nicht als "Unständig
Beschäftigter" registriert, machte das Programm bei
Erreichen der Tages-Bemessungsgrenze dicht und berücksichtigte
weitere Beiträge nicht mehr für die Rentenberechnung.
Antiquierte
Abrechnungspraxis
Das
Zuviel Gezahlte muss den Versichten auf Antrag zurückerstattet
werden, die überschüssigen Arbeitgeberbeiträge sollen
anteilsmäßig an die Arbeitgeber gehen. Eine mühsame
Arbeit, die die Krankenkassen in häufig ohne
Computerunterstützung machen. Für jeden einzelnen
Sprechereinsatz wird per Hand der Ãœberschuss ausgerechnet und
auf einem Formular notiert, das dann an Arbeitgeber und Arbeitnehmer
geschickt wird.
Wolfgang
Schimmel von der IG Medien-Rechtsabteilung empfiehlt, das gesamte
Verfahren für Beschäftigte mit kurzfristigen Verträgen
auf eine vernünftigere Grundlage zu stellen, und zwar nach dem
Muster der Künstlersozialversicherung: Die Arbeitgeber zahlen
dann Beitrag für jede Mark, die an die tageweise Beschäftigten
geht, während die Beschäftigten gemäß ihrem
Jahreseinkommen abführen. Ergebnis: Eine durchgehende
Versicherung ohne Lücken, bei geringem Verwaltungsaufwand, vor
allem dann, wenn die unlogische Beitragsbemessungsgrenze fällt.
Das
Chaos bei der Sozialversicherung hat viele Betroffene zur Weißglut
getrieben. Synchronsprecher Peter Reinhardt wurmt es, dass er zuviel
gezahlte Beiträge erst zwei Jahre später zurückerstattet
bekommt: "Wer zahlt meine Kreditzinsen? Bekommen meine Erben
das Geld zurück, wenn ich in der Zwischenzeit sterbe?"
Sein
Kollege Norbert Gescher focht die Korrektur seines
Versicherungsverlaufs vor dem Sozialgericht aus. Am Ende des Prozesse
aber hatte außer Geschers Anwältin niemand seinen Stapel
Belege durchgeackert, weder die BfA, noch die Richterin. Zu
kompliziert war allen der Sachverhalt. Das Verfahren endete mit einem
Vergleich, bei dem die meisten Ansprüche Geschers für die
Rente pauschal anerkannt wurden.
Versicherte
drehen Spieß um
Den
Unmut der Branche bekam die BfA bei einer Veranstaltung im Oktober
2000 in Berlin zu spüren. Eigentlich wollten die
Rentenversicherer dabei die Betroffenen über die Rechtsfigur der
"Unständig Beschäftigten" aufklären. Aber
die drehten den Spieß um und klärten ihrerseits die BfA
über die unhaltbare Praxis auf.
Sehr
turbulent und emotional sei die Veranstaltung verlaufen, sagt der
Leiter des BfA-Grundsatzreferates, Kubina. Die anwesenden Vertreter
der Krankenkassen gaben sich laut Kubina gar nicht erst zu erkennen;
keiner von ihnen meldete sich zu Wort.
Das
Erlebnis, Aug in Aug mit Versicherten zu sprechen, blieb bei der BfA
nicht ohne Wirkung. In einem Brief an die Krankenkassen kündigte
die Bundesversicherungsanstalt an, sie werde in Zukunft bei den
Kassen besonders prüfen, wie sie mit den Beiträgen und den
Meldungen der unständig Beschäftigten umgehen.
Auch
an das Bundesarbeitsministerium schrieb die BfA und bat darum, die
"Problematik aufzugreifen und über eine zeitgerechte
gesetzliche Regelung nachzudenken." Das Protokoll des Treffens
mit der Synchronbranche lag dem Brief bei. Auf den Wunsch nach einer
Gesetzesänderung hat das Ministerium bisher nicht geantwortet.
Ulli
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